Kinderarmut: “Ein bisschen zynisch ist das schon”

14. März 2017

Gerade hat das Deutsche Kinderhilfswerk ein neues, kostenloses Pixi Buch rund um Kinderarmut veröffentlicht. Aktueller könnte die Thematik kaum sein: in Deutschland gilt jeder fünfte junge Mensch unter 18 Jahren als arm. Im Büchlein „Alle sind dabei!“ geht es damit auch um die in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Kinderrechte. Das Ganze ist so verpackt, dass es schon die Kleinsten verstehen können.

Kai Hanke vom Deutschen Kinderhilfswerk hat mir zum Pixi Buch und zur Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland ein paar Fragen beantwortet und auch erklärt, wie wir im Alltag helfen können.

Mum & still me: Deutschland steht doch vergleichsweise gut da, wie kommt es ihrer Ansicht nach zu steigender Kinder- und Jugendarmut?

Kai Hanke: Die Kinderarmut in Deutschland, und dies bezieht sich auf alle Menschen unter 18 Jahren, die von Armut betroffen sind, verharrt seit vielen Jahren auf hohem Niveau. Laut Armutsbericht sind in einigen Bundesländern steigende Werte, in anderen Bundesländern leicht sinkende Werte zu verzeichnen.

Insgesamt lässt sich aber vor allem der Trend feststellen, dass wer einmal von Armut betroffen ist, in einem Teufelskreis der Armut festhängt.

Aktuell sind rund 2,7 Millionen Kinder von Armut betroffen. Diese Kinder leben in Familien, denen weniger als 60 Prozent des mittleren gesellschaftlichen Einkommens zur Verfügung steht. Das betrifft immerhin jedes fünfte Kind. Die Armut wirkt sich dabei sowohl auf die materiellen Lebensverhältnisse, aber auch auf die Psyche und Gesundheit der Kinder aus. Der Grund für diese noch immer viel zu hohe Zahl liegt aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerkes vor allem darin, dass die Vielschichtigkeit des Problems nicht zur Kenntnis genommen und die strukturellen Ursachen nicht ausreichend konsequent behoben werden. Zum einen ist aus unserer Sicht die Arbeitsmarktpolitik wichtig, denn nichts schützt Kinder so wirksam vor Armut wie das Erwerbseinkommen der Eltern. Aber auch eine Reform der Sozialgesetze ist längst überfällig, um die Regelsätze von Kindern und Familien im Sozialgeldbezug bedarfsgerecht anzupassen. Gleichzeitig muss aber auch an anderen Stellschrauben gedreht werden, so bei der Förderung benachteiligter Kinder in Kita und Schule. Hier müssen dringend personelle Voraussetzungen geschaffen werden, um den besonderen Bedarfen der Kinder gerecht zu werden. Viele Kinder aus armen Haushalten haben zudem Nachteile bei der Gewährleistung eines gesunden Aufwachsens. Auch hier fehlt es an tragfähigen Maßnahmen zu ihrer Unterstützung, zum Beispiel einem gesunden und kostenlosen Mittagessen in Kita und Schule oder einer stärkeren Anbindung des Gesundheitssystems an die frühkindliche Bildung

Politische Maßnahmen gegen Kinderarmut taugen schlecht als Profilierungsfeld

Mum & still me: Vor kurzem hat Julia Friedrichs in der ZEIT geschrieben: “Am Ende sind (arme) Kinder (…) den allermeisten doch egal. (…) Spätestens wenn aus den süßen Zehnjährigen laute, manchmal schwierige Teenager geworden sind, wandelt sich das Mitleid vieler in Ablehnung.” Sehen Sie das auch so? Wieviel Aufmerksamkeit bekommt die Thematik Ihrer Erfahrung nach?

Kai Hanke: Das sehe ich ein wenig differenzierter. Das Deutsche Kinderhilfswerk konnte in einer Umfrage feststellen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung bereit wäre, das Problem der Kinderarmut – also Kinder und Jugendlicher – nachhaltig zu bekämpfen und dafür sogar höhere Steuern in Kauf zu nehmen. Umgekehrt müssen wir eine zunehmende gesellschaftliche Entsolidarisierung verzeichnen, die arme Menschen mit ihren Problemen alleine lässt, ja sogar aktiv von Teilhabemöglichkeiten ausschließt – kulturell, bildungstechnisch, sozial.

Unsere Erfahrung mit dem Thema Kinderarmut ist: Je konkreter ein Hilfebedarf kenntlich wird, desto stärker steigt auch die Hilfsbereitschaft der Mitmenschen.

Leider ist aber die nachhaltige Bekämpfung von Kinderarmut in all ihrer Komplexität eben wenig konkret. Politische Maßnahmen zur Behebung einer Benachteiligung der von Armut sind sie politisch schwer umzusetzen: Sie taugen schlecht als Profilierungsfeld, weil Wirkungen nicht sofort erkennbar werden und daher auch nicht öffentlichkeitswirksam verwertet werden können. Ein gutes Beispiel dafür ist das Thema Durchlässigkeit des Bildungssystems. Hier sind enorme Mehrausgaben und strukturelle Förderung benachteiligter Kinder seit langem überfällig. Das kostet aber Geld und die Erfolge können erst in der Zukunft verzeichnet werden. Ein bisschen zynisch ist das schon.

Kinderarmut ist Familienarmut

Mum & still me: An welchen politischen Stellschrauben müsste am dringendsten gedreht werden, um die Situation für arme Kinder und Jugendliche zu verbessern?

Kai Hanke vom Deutschen Kinderhilfswerk

Kai Hanke: Auf die Bedeutung einer guten Arbeitsmarktpolitik habe ich ja bereits hingewiesen. Existenzsichernde Löhne, die Familien mit Kindern unabhängig von Sozialtransfers machen, sind das A und O. Wir brauchen aber auch für diejenigen, die das nicht schaffen, eine umfassende Reform der Sozialgesetze. Das Deutsche Kinderhilfswerk unterstützt aktuell gemeinsam mit anderen Verbänden eine Reihe konkreter Anpassungen in der Sozialgesetzgebung. Dabei wird aufgezeigt, wo wir die Probleme sehen:

Die Hartz IV-Sätze für Kinder sind zu gering. Sie basieren auf ungenauen Rechnungen und willkürlichen Abschlägen.

Staatliche Unterstützung muss einfach gestaltet und leicht zugänglich sein, so dass von Armut betroffene Familien keine Hürden bei der Inanspruchnahme der Leistungen erleben – wie aktuell beispielsweise beim Bildungs- und Teilhabepaket. Derzeit gehen viele Hilfen an den Familien und Kindern, die diese brauchen, vorbei.

Auch in diesem Sinne fordert das Deutsche Kinderhilfswerk die Einführung einer bedarfsgerechten Kindergrundsicherung. Diese soll den allgemeinen und individuellen Bedarfen von Kindern Rechnung tragen und den bestmöglichen Zugang zu Bildung, Freizeit und gesunder Ernährung beinhalten.

Das heißt eine einheitliche, zu besteuernde Geldleistung für alle Kinder, die den Bedarf jedes Kindes unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Familie und der Familienform gewährleistet, nach dem Alter gestaffelt ist und Mehrbedarfe, etwa für kranke Kinder, enthält. Diese Kindergrundsicherung wird von einer Stelle verwaltet und ausgezahlt.

Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert zudem verstärkte Anstrengungen die Chancenungleichheit im deutschen Schulsystem zu bekämpfen. Dazu ist ein nach oben durchlässiges Schulsystem, individuelle Förderprogramme für benachteiligte Schüler/innen, der flächendeckende Ausbau der Ganztagsschule und Lernmittelfreiheit sinnvoll. Zur Unterstützung der Einkommensmöglichkeiten von Familien, insbesondere auch von Alleinerziehenden, besteht ein weiterer wichtiger Schritt in der Sicherung von Betreuungsangeboten vom vollendeten ersten Lebensjahr bis zum Schuleintritt und eine Gewährleistung qualitativer Mindeststandards in der Kindertagesbetreuung.

Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert zudem die gezielte Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund über ein Bildungsprogramm, das um interkulturelle Inhalte ergänzt wird und eine gezielte Sprachförderung sicherstellt.

Weiterhin ist die Verbesserung der gesundheitlichen Beratung und Versorgung von Familien durch eine verstärkte Öffnung und Erweiterung der bestehenden Gesundheitsdienste voran zu treiben. Gleichzeitig wissen wir, dass Kinderarmut ist immer auch Familienarmut ist. Wir brauchen daher auch kommunalpolitische Strategien für die Inklusion von Familien in benachteiligenden Lebensverhältnissen als Ganzes. Wer arme Menschen in die Randbezirke von Kommunen verdrängt und in diesen Gegenden Infrastrukturen zur Förderung von Kindern verkommen lässt, der trägt aktiv zur Verstetigung von Armutsverhältnissen dieser Familien bei. Hier braucht es in der Städteplanung und Städtebauförderung dringend ein Gegensteuern im Sinne einer sozialen Durchmischung auf der einen und einer qualitativen Aufwertung von Wohnumfeldern, in denen eine große Zahl sozial benachteiligter Menschen wohnt, auf der anderen Seite.

Es geht nicht um Almosen

Mum & still me: Was können wir im Alltag dazu beitragen?

Kai Hanke: Kinderarmut hat im Alltag ganz konkrete Auswirkungen für Kinder, da sich die viele Familie viele Dinge nicht leisten kann. Wir können Kindern, die Not leiden, in dieser Situation durch unser finanzielles Engagement unterstützen. Dafür bietet das Deutsche Kinderhilfswerk beispielsweise einen Kinderhothilfefonds an, der durch Spenden getragen wird. Über diesen Kindernothilfefonds helfen wir Kindern in ganz konkreten Problemlagen, unbürokratisch und direkt.

Aber etwas gegen Kinderarmut zu unternehmen bedeutet auch, sich gegen die Ursachen von Armut zu engagieren.

Wir können beispielsweise als Wählerinnen und Wähler zum Ausdruck bringen, wie wichtig uns die Bekämpfung der Kinderarmut ist. Ganz konkret im Alltag lassen sich zudem vor allem die Auswirkungen von Kinderarmut abfedern: Armut führt oft zu Ausgrenzung der Betroffenen. Hier ist es an den Mitmenschen, sozialen Ausschluss zu verhindern. Bilden Sie Gemeinschaftskassen für Kita- und Schulausflüge, versuchen Sie einer Verengung ihres Freundeskreises und dem ihrer Kinder aufgrund der materiellen Lebensverhältnisse anderer entgegenzutreten. Sozialer Ausschluss vollzieht sich vor allem unbewusst. Es hilft daher oftmals, sich auch in die Situation derjenigen hineinzuversetzen, die nicht so viel haben wie man selbst – der Rest kommt dann oft von allein.

Wichtig ist: Dabei geht es nicht um Almosen. Helfen Sie ohne milde Gaben, sondern mit Einfühlungsvermögen und Unterstützung der Kinder bei der Umsetzung ihrer ganz konkreten Anliegen.

Mum & still me: Wie kamen Sie auf die Idee mit dem Pixi Büchlein und was war Ihnen dabei besonders wichtig?

Kai Hanke: Das Pixi Buch „Alle sind dabei“ greift genau diese unbewussten Ausschlussformen von benachteiligten Kindern auf. Es fördert ein Verständnis für die Hintergründe von Ausgrenzung und die Gefühle der Kinder, wenn es zum Ausschluss kommt. Das wollten wir zeigen. Und zwar so, dass das Thema bereits in Kitas und Familien aufgegriffen werden kann. Denn hier beginnen Kinder in der Regel, die ersten Ausschlusserfahrungen zu machen. Und Fachkräften in Kita und Schule kommt eine bedeutende Rolle dabei zu, Kinder von Anfang an zu fördern und zu vermeiden, dass sie systematisch ausgegrenzt werden. Das Pixi Buch reiht sich in dieser Form übrigens ein in eine ganze Reihe von Bilderbüchern für Kinder, Kitas und Familien, die sich unterschiedlichen Kinderrechten widmen. Damit soll auch das Bewusstsein für die Rechte von Kindern sowie ihrer ganz konkreten Bedeutung im Alltag gefördert werden. Denn das ist das Anliegen der Kinderrechte, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben und von Deutschland ratifiziert wurden: Kinderrechte sollen den Alltag von Kindern konkret besser machen.

Nicht weil wir Kindern das zugestehen, sondern weil sie ein Recht darauf haben!

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