Expertinneninterview: Mehrheit der Deutschen gegen gleiche Möglichkeiten für Flüchtlingskinder

5. Juli 2017

Millionen Flüchtlingskinder sind von Hunger, Armut, Einsamkeit und Erkrankungen bedroht. UNICEF fordert deshalb aktuell den G20 Gipfel auf, ihre Situation zu verbessern. Zur Lage von jungen Flüchtlingen hier in Deutschland hat gerade erst das Deutsche Kinderhilfswerk eine Studie veröffentlicht – mit zum Teil ungeahnten Ergebnissen…

Nina Ohlmeier, die Bereichsleiterin für politische Kommunikation im DKHW, hat mir einige Fragen zur Studie beantwortet.

Mum & still me: Welche Ergebnisse aus der Studie haben Sie am meisten überrascht?

Nina Ohlmeier: In der Umfrage, die wir anlässlich des diesjährigen Weltflüchtlingstages in Auftrag gegeben haben, stimmen 42 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Flüchtlingskinder sofort die gleichen Möglichkeiten haben sollten wie in Deutschland geborene Kinder.

52 Prozent sind der Auffassung, dass man den Flüchtlingskindern nicht sofort die gleichen Möglichkeiten bieten kann.

2016 haben noch 69 Prozent dieser Frage zugestimmt, also rund ein Drittel mehr. Damit ist die Zustimmungsrate sehr deutlich gefallen. Das hat uns überrascht und auch erschreckt.

Mum & still me: Wieso, glauben Sie, möchte die Mehrheit der Deutschen nicht, dass Flüchtlingskinder dieselben Rechte haben wie Kinder, die hierzulande geboren wurden?

Nina Ohlmeier: Wenn wir uns die Zustimmungsraten zum Handlungsbedarf bei der Integration ansehen, dann sind diese sehr hoch. Eine sehr große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland – 90 Prozent – sieht den größten Handlungsbedarf im ausreichenden Zugang von Flüchtlingskindern und ihren Familien zu Angeboten der Sprachförderung. Sehr großer Handlungsbedarf wird auch für den ausreichenden Zugang von Flüchtlingskindern zu Kindertageseinrichtungen und Schulen und bei der kindgerechten und sicheren Unterbringung von Flüchtlingskindern mit ihren Familien in Wohngegenden, die Kontakte zu einheimischen Familien ermöglichen, gesehen. Das meinen jeweils 74 Prozent. Auch beim kostenfreien Zugang von Flüchtlingskindern zu Freizeitaktivitäten, beispielsweise Sportvereinen, bei denen sie andere Kinder kennenlernen können, wird überwiegend Handlungsbedarf gesehen. Es scheint also weniger infrage zu stehen, dass die zu uns geflüchteten Kinder als Teil unserer Gesellschaft gute Startbedingungen brauchen.

Offenbar – so interpretieren wir die Zahlen – gibt es vielmehr die Sorge, dass einheimische Kinder darunter leiden, wenn Flüchtlingskinder, die in Deutschland leben, von Anfang an die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben.

Das sollte ein kinderrechtliches Warnsignal sein, ganz besonders für die zuständigen politischen Akteure.

Mum & still me: Welche Position vertritt das Deutsche Kinderhilfswerk hier und wieso?

Nina Ohlmeier: Für uns ist ganz klar: Nach der UN-Kinderrechtskonvention, die in Deutschland geltendes Recht ist und für alle Kinder unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus gilt, haben alle Kinder die gleichen Rechte. Deshalb sehen wir in den Umfragewerten einen klaren Handlungsauftrag für eine Bildungsoffensive in Sachen Kinderrechte.

Zugleich ist es Aufgabe der Politik, den Menschen die Angst zu nehmen, dass hier ein Recht gegen ein anderes ausgespielt werden soll.

Es muss vielmehr deutlich gemacht werden, dass es um gleiche Startchancen für alle Kinder und um eine gelingende Integration geht, die für die Kinder selbst, aber auch die Gesellschaft insgesamt von Vorteil ist. Dafür braucht es allem voran eine schnelle Integration ins Bildungssystem, unabhängig von der Bleibeperspektive. Hierfür müssen wir die rechtlichen Normierungen, wie eine Schulpflicht mit der Ankunft in Deutschland, aber auch die praktischen Grundlagen schaffen. Es muss sichergestellt werden, dass die Bildungseinrichtungen, Kitas wie Schulen, tatsächlich zugänglich sind, also örtlich erreichbar und durch Verkehrsmittel angebunden, aber auch, dass die Kinder mit ausreichend Lernmitteln ausgestattet werden. Ohne Frage ist daneben auch der uneingeschränkte Zugang zum Gesundheitssystem wichtig. Weiterhin steht für uns die Beteiligung der Kinder und Familien im Zentrum. Sie sollen beispielsweise ihren Wohnort frei wählen können. In Schule und Kita, sollte Kindern und Jugendlichen das Wissen um unsere demokratische Gesellschaft vermittelt und Möglichkeiten für demokratisches Engagement erlebbar gemacht werden.

Mum & still me: Am vergangenen Donnerstag hat die Bundesregierung beschlossen, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – anders als hier geborene Kinder und Jugendliche – nur noch je nach Kassenlage der Bundesländer in der Jugendhilfe zu versorgen. Die Flüchtlingspolitik hat die Länder viel Geld gekostet, so sollen Einsparungen möglich gemacht werden. Wie bewertet das DKHW diesen Vorstoß und wieso?

Die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, die in der letzten Woche beschlossen wurde, sieht sogenannte Landesrahmenverträge als Voraussetzung für eine Erstattung von Kosten der Kommunen für Maßnahmen und Leistungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vor. Wir haben die Sorge, dass dies dazu führen wird, dass die Länder den erstattungsfähigen Leistungskatalog für Kommunen einschränken oder so definieren, dass geltende Standards unterschritten werden.

Dies würde zu einer „Zwei-Klassen-Kinder- und Jugendhilfe“ führen, die katastrophale integrationspolitische Folgen hätte.

Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, die ohne Familie und häufig mit schlimmen Kriegs- und Fluchterfahrungen in Deutschland ankommen sind eine besonders schutzbedürftige Gruppe. Leistungen für diese Kinder und Jugendlichen mit dem Argument zurückzufahren, dass sie eigenständiger als in Deutschland aufgewachsene Jugendliche sind, ist aus unserer Sicht grob fahrlässig. Das Kinder- und Jugendhilfesystem in Deutschland hat sich in der Form bewährt, dass Leistungen nach individuellen Bedarfen gewährt werden. Dieses Prinzip sollte auch für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge weiterhin gelten.

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