Ach. Mutig war das wahrlich nicht.

13. März 2021

Nun hat das ZEIT Magazin in der Ausgabe der Kalenderwoche 10 also die Causa Thierse noch einmal aufgerollt. Was für eine Chance für ein Printmedium mit solcher Reichweite. Sie wurde grandios vertan.

Ich mag die ZEIT. Samstags und Sonntags, wenn der Tag einmal wieder um 7 Uhr beginnt, weil die Kinder das Prinzip Wochenende und Erholung noch nicht so ganz aufgesogen haben, da ist die Lektüre der ZEIT, eingemuckelt in eine Decke, mit einer Tasse Kaffee, mein Wochenendmoment. Komischerweise sind die Jungs in diesen Morgenstunden sehr genügsam, sie beschäftigen sich in der Regel die ersten Stunden mit sich und ihren Bauwerken, Autostaus, Liedern, Büchern und ich habe meine Ruhe. Ich muss nur wach und da sein. So war es auch heute. Ich blätterte die ersten Seiten des Magazins auf. Und stockte. Eine ganzseitige Aufnahme des Bundestagspräsidenten a.D. Wolfgang Thierse. Dazu der Header: “Er will streiten.”

So begann die Chose

Um an der Stelle alle mitzunehmen, die die Debatte rund um den bärtigen SPD-Mann nicht mitbekommen haben: Der Beginn war ein FAZ Gastbeitrag rund um Identität und die Aggressivität der Debatten um “Rassismus, Postkolonialismus und Gender”. Ich selbst stolperte zuerst über ein Interview im Deutschlandfunk. Einige Zitate, die ein bisschen verdeutlichen, wieso Thierse so viele Menschen gegen sich aufgebracht hat:

“Aber das schöne Beispiel Berlin ist ja Onkel Toms Hütte und Mohrenstraße. Da hat sich ein heftiger Streit entbrannt und das muss weg, weil es Menschen gibt, die meinen, das sei rassistisch. Dabei ist die Tradition, die Geschichte dieser beiden Namen eine vollkommen andere, aber das will man gar nicht mehr wahrnehmen, weil eine differenzierte Betrachtung von Bedeutungsgeschichte ja nicht mehr erlaubt ist, sondern mein Gefühl der Betroffenheit, mein Gefühl des Ausgeschlossen seins. Das finde ich problematisch.”

“Das ist ein Wesenselement von Kultur, von Kulturgeschichte. Wenn man sagt, Weiße dürfen nur Weiße spielen, Schwule etwa nur Schwule, Alte etwa nur Alte, dann ist das etwas, was das Theater kaputt macht (…)” – “Das heißt, Sie meinen, Blackfacing müsste noch weiterhin heute möglich sein?” – “Kulturelle Aneignung über Hautfarben und ethnische Grenzen hinweg muss möglich sein. Das ist ein Wesenselement von Kultur (…)”

Als Folge auf diese und weitere Äußerungen Thierses zur Frage, wie sehr die Gesellschaft Rücksicht auf die Gefühle / Geschichte sexueller und anderer Minderheiten nehmen muss, krachte es in der SPD. Vor allem SPD-Chefin Saskia Esken und Kevin Kühnert gaben öffentlich Konter. Gut, nachdem Thierse dramatisch seinen Parteiaustritt anbot, wurde gemäßigt relativiert. Aber gut. Der unschöne Ausbruch eines rückwärtsgewandt-verklärten “old white man” wäre versickert, vermutlich. Es wäre ja nicht der erste seiner Art gewesen. Und nun das.

Stilisierung zur Heldenfigur

Das ZEIT Magazin schenkt Wolfgang Thierse zwei Doppelseiten, geschmückt von dramatisch ausgeleuchteten schwarz-weiß Bildern der Portraitierten. Der Autor Raoul Löbbert versucht hier und da ein wenig Sarkasmus, ein wenig Augenzwinkern einfließen zu lassen. Das reicht aber nicht. Diese zwei Doppelseiten sind nicht mehr und nicht weniger als ein Zugeständis, ein Loblied. Unwidersprochen stehen da Sätze wie:

“Wissen Sie eigentlich, dass normale Leute mir danken für meinen Mut? (…) Ich hatte nicht das Gefühl, mutig zu sein. Ich war vielmehr überzeugt, einen zutiefst sozialdemokratischen Text verfasst zu haben.”

“Und dann sagt er ihn, den Satz, der wie ein Sockel ist, auf den sich Thierse wie ein Denkmal nur noch draufstellen muss: “Ich bin mittlerweile zum Symbol geworden für viele normale Menschen, (…) die nicht mehr sicher sind, was sie noch sagen dürfen und wie sie es sagen dürfen.”

Es ist ein Heldenlied, auch wenn das wohlmöglich nicht die Intention des Verfassers war. An einer Stelle wird beispielsweise angeführt, dass Thierse den strukturellen Rassismus vielmehr als “Mythos von der Erbschuld des weißen Mannes” sehe. Da hätte man aber tiefer reingehen müssen. Erklären, wo das Problem mit diesem Gedankengang ist. Oder zumindest eine Gegenüberstellung, eine Erläuterung, eine andere Meinung zu Wort kommen lassen. Stattdessen wird im nächsten Absatz hervorgehoben, dass er ja Schirmherr der Amadeu Antonio Stiftung sei und auf Demos gegen Rechts vorne mit dabei war. An der Stelle empfehle ich ausdrücklich die Lektüre von Tupoka Ogettes Arbeiten. Denn sie schafft es ganz hervorragend aufzuzeigen, wieso auch Menschen, die sich gegen Nazis einsetzen im tatsächlichen Handeln durchaus rassistisch sein können, ohne dies wahrzunehmen (Happyland lässt grüßen).

Eine verpasste Chance

Das ist vielleicht auch der springende Punkt. Thierse moniert, Identitätspolitik sei nicht mehr demokratisch, weil Andersdenkende nicht akzeptiert würden. Aber darum geht es ja nicht. Es geht darum, dass es hier um Fakten, Strukturen, Geschichte geht und das, was diese mit der Gesellschaft gemacht hat. Es geht darum, anzuerkennen, was in der Vergangenheit falsch gemacht wurde und aus diesen Fehlern zu lernen. Es geht darum, sich zu informieren, bevor gepoltert wird. Oder um es mit den treffenden Worten von Anna Seibt zu sagen:

“Wenn Wolfgang Thierse und ihm gleichgesinnten Menschen wirklich etwas daran liegt, gesellschaftliche Gräben einzuebnen und ein gesamtgesellschaftliches Wir-Gefühl zu etablieren, dann müssen sie erst einmal in den sauren Apfel beißen und ihre Privilegien und Machtpositionen als solche erkennen, sich geschichtlichen Fakten stellen und sich nicht reflexartig mit längst widerlegten Argumenten zu Opfern der Debatte stilisieren.”

Von Mut ist die Rede, in den Zeilen des ZEIT Magazins. Wahren Mut aber hätte Wolfgang Thierse als selbsternannte Galionsfigur der “normalen Menschen” (als wären all jene, die Thierses Thesen widerlegten, nicht “normal”) bewiesen, hätte er schlicht zugegeben, dass er nicht mehr mitkommt. Das ist okay und es geht vielen so – mir auch manche Male. Die Welt ändert sich, vieles wird reflektiert – endlich – und alte Wunden geheilt. DAS sind die Schritte hin zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens, der niemanden mehr zurücklässt. So manche Male komme auch ich zu spät, beschäftige mich nicht tief genug. Weil mir die Zeit fehlt und auch weil es nicht einfach ist, Altes zurück zu lassen und die Sprache, das Tun zu überdenken und zu ändern. Es ist anstrengend. Es tut auch weh, Erinnerungen an unbeschwerte und naive Vergangenheitsmomente als falsch, ableistisch, rassistisch entlarvend zu müssen. Aber nur das ist der Weg, wenn wir alle zusammenbringen wollen. Gesellschaften ändern sich, entwickeln sich weiter, bleiben in Bewegung. Wir können uns jetzt entscheiden: wollen wir hin zu einer Gesellschaft des Zusammenhalts, des Mitnehmens und weg von Diskriminierung und Verletzung? Dann sind solche Beiträge, wie der im ZEIT Magazin, Steine, die unnötigerweise in den Weg gelegt werden. “Er will streiten” titelt der Beitrag. Von einer “Pose” Thierses ist die Rede. Ich frage mich: was soll dieser Text tatsächlich bezwecken? Geht es um einen gesellschaftspolitischen Beitrag, um weiterdenken und um tatsächliche Impulse für Zusammenhalt? Geht es um ein Portrait des “normalen” weißen Mannes? Oder wollte / sollte Raoul Löbbert provozieren und dem Medium Aufmerksamkeit bescheren? Wenn letzteres: ich bin in die Falle getappt, die Aufmerksamkeit ist da.

Nun sollte diese aber genutzt werden, um eine Erwiderung und Reflexion zuzulassen.

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